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Viele Bio-Betriebe in der Krise!

Hessische Allianz für die Agrar- und Ernährungswende gegründet

Am 15. Juni 2022 gründen der BUND Hessen, der NABU Hessen, die Hessische Gesellschaft für Ornithologie und Naturschutz (HGON), die Vereinigung ökologischer Landbau in Hessen (VÖL), die Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft (AbL), Slowfood sowie das Netzwerk der hessischen Ernährungsräte mit dem Verein BIONALES – Bürger für regionale Landwirtschaft und Ernährung, offiziell die neu entstandene `Hessische Allianz für die Agrar- und Ernährungswende´.

Die Organisationen setzen sich für eine ökologisch bzw. umfassend nachhaltig ausgerichtete Landwirtschaft sowie eine gute und nachhaltige Ernährung ein. Das Engagement der Allianz richtet sich an Politiker*innen, den Lebensmitteleinzelhandel (LEH) und die Verbraucher*innen in Hessen. Ziel ist es, auf aktuelle Entwicklungen aufmerksam zu machen und ein konsequentes, gemeinsames Handeln einzufordern. Denn das ist dringend erforderlich, um eine ökologisch und sozial ausgerichtete Landbewirtschaftung mit ihren regionalen Wertschöpfungsketten zu stärken. Nur wenn alle Verantwortlichen jetzt (endlich) aktiv werden, lassen sich unsere natürlichen Lebensgrundlagen langfristig schützen!

„Ich höre von vielen verzweifelten Anrufen, denn die bäuerlichen Familien wissen nicht, wie und ob sie mit der Landwirtschaft weitermachen können“, sagt Tim Treis, Sprecher der Vereinigung Ökologischer Landbau in Hessen.

Und der Geschäftsführer des BUND Hessen, Michael Rothkegel fügt hinzu: „Wir sind überzeugt, dass ein Schulterschluss von Vertreterinnen und Vertretern des Ökolandbaus, des Naturschutzes und des Netzwerks der Ernährungsräte möglich ist und von allen Seiten als sehr sinnvoll erachtet wird. Wir können nicht zulassen, dass die Betriebe, die wir für den Naturschutz und die Erzeugung unserer Lebensmittel brauchen, jetzt in Schwierigkeiten geraten.“

Hierfür wendet sich die neu gegründete Allianz heute mit einem dringenden Aufruf an die Öffentlichkeit: Die aktuelle politische Weltlage verbunden mit der Bedrohung unserer Lebensgrundlagen durch den Klimawandel und den Verlust der Artenvielfalt ist nicht mehr zu leugnen.

Dr. Susanne v. Münchhausen vom Ernährungsrat Frankfurt und dem Verein BIONALES hebt hervor: „Wir alle stehen mehr denn je in der Gefahr,genau die Betriebe und Wertschöpfungsketten zu verlieren, die das umsetzen, was angesichts des Krieges in der Ukraine notwendig und zukunftsfähig wird: eine ökologische und nachhaltige Lebensmittelerzeugung, die das Klima und unsere natürlichen Ressourcen schützt und unabhängig von Energie- und Futtermittelimporten sein kann. Wenn diese politisch gewollt und von der Gesellschaft mitgetragen wird, dann müssen wir alle jetzt etwas tun und ins Handeln kommen!“

Bei Fragen zu dieser Pressemeldung stehen für Rückfragen gern bereit:

Tim Treis, Sprecher der VÖL, Vereinigung Ökologischer Landbau in Hessen e.V. (tim.treis@voel.de)

Michael Rothkegel, Geschäftsführer des BUND Landesverbandes Hessen e.V. (michael.rothkegel@bund-hessen.de)

Dr. Susanne v. Münchhausen, Sprecherin des Ernährungsrates Frankfurt/M und Mitglied des erweiterten Vorstandes von BIONALES e.V. (s.vonmuenchhausen@ernaehrungsrat-frankfurt.de)



_*AUFRUF*_


*Eine Krise gegen die andere Krise ausspielen?!
Hessische Allianz für die Agrar- und Ernährungswende*

Ein hessischer Betrieb, der Bio-Eier erzeugt, berichtet von einem Umsatzverlust von 50%, andere Betriebe mit Acker- oder Gemüsebau berichten von ähnlichen negativen Umsatzentwicklungen[1]. Das Fachmagazin `Biowelt´ spricht von Umsatzrückgängen im Biofachhandel von ca. 14 %[2].

Diese Entwicklung gefährdet die Existenz unserer Biobetriebe! Genau der Betriebe, die wir benötigen, um die von uns als Gesellschaft gesteckten Nachhaltigkeitsziele zu erreichen!

Ziel dieses Aufrufs ist nicht, den wirtschaftlichen Rückgang einer weiteren Branche zu beklagen, denn mit Recht könnten viele Bereiche unseres Wirtschaftens vergleichbare Aussagen zu Umsatzrückgängen machen. Es geht vielmehr darum, diese negative wirtschaftliche Entwicklung des regionalen Ökolandbau in den größeren Zusammenhang seiner Bedeutung als nachhaltiges Wirtschaftssystem zu stellen. Denn nur der Ökolandbau bietet Antworten auf die großen globalen Herausforderungen wie der Klimakrise und dem Verlust der Artenvielfalt.^^[3]

Tatsächlich besteht die Gefahr, dass die derzeitige Situation genau jene Strukturen zerstört, die wir für die Zukunft brauchen und über deren Vorteil wissenschaftlich Einigkeit herrscht: regionale, ökologische Wertschöpfungssysteme mit größtmöglicher Unabhängigkeit von externen Betriebsmitteln.

Wir sehen uns aktuell mit folgender Entwicklung konfrontiert: Die mit dem Krieg in der Ukraine einhergehende wirtschaftliche Entwicklung mit einer Verknappung von Waren, steigenden Kosten für Brenn- und Treibstoffe[4] und Lebensmittelpreisen[5] führt zu einer spürbaren Veränderung des Einkaufsverhaltens unserer Verbraucher*innen. Hochpreisige Bioprodukte werden im Regal zugunsten von Bio-Ware im Discounter stehen gelassen; regional erzeugte Ware verliert derzeit immer mehr an Marktanteil gegenüber Billig-Angeboten. Die im Mai nicht verkauften Spargel und Erdbeeren aus unseren Anbauregionen[6] sind vermutlich nur die Vorboten für die Markteinbrüche, die im Sommer und Herbst auf uns zukommen dürften.

Die aktuelle Krise zeigt noch deutlicher als bereits erkannt, wo die Schwächen unseres bisherigen globalisierten Systems der Lebensmittelerzeugung liegen. Denn die Abhängigkeiten von Energie- und Futterimporten sind das Gegenteil einer resilienten Lebensmittelerzeugung. Eine Landwirtschaft, welche nur durch den Einsatz chemisch-synthetischer Dünge- und Spritzmittel aufrechterhalten werden kann, gewährleistet eine langfristige Nahrungsmittelsicherheit nicht. Die längst bekannten und wissenschaftlich belegten negativen ökologischen Auswirkungen sind jedoch der Hauptgrund, dieses System zu hinterfragen[7].

Zusammengefasst sind es drei Faktoren, welche die Notwendigkeit zur Transformation dieses Systems offenlegen. Erstens die hochgradig negativen Auswirkungen auf unsere Ökologie (Verschmutzung des Grundwasser, massiver Rückgang der Biodiversität, Abbau des Humusgehaltes der Böden mit einhergehender vernichtender Klimabilanz etc.), zweitens den viel zu hohen Energiebedarf für die Erzeugung dieser Betriebsmittel und den damit einhergehenden weiteren negativen Folgen für den Klimawandel und drittens die Abhängigkeit von autokratischen Staaten, welche uns, wie der aktuelle Konflikt mit Russland zeigt, massive Probleme bereitet.

Es besteht wissenschaftlich und in weiten Teilen der Gesellschaft Konsens, dass der Klimawandel und der Verlust der Biodiversität Krisen darstellen, deren Gefährlichkeit nicht hoch genug einzuschätzen sind, da sie unsere Ernährungssicherheit und den Lebensraum auf dieser Erde massiv bedrohen[8].

Nur der umfassende Ausbau des Ökolandbaus bietet hier eine Alternative! Denn er trägt maßgeblich dazu bei, dass Böden gesund erhalten werden, CO2 sequestriert, Biodiversität gefördert und ein unabhängiges, nachhaltiges und ein weitgehend resilientes Systeme zur Produktion von Lebensmitteln geschaffen wird[9].

Diese oben beschriebenen Tatsachen waren bis zum Beginn des Krieges in der Ukraine weitgehend Konsens. Sowohl die Wissenschaft, die Europäische Kommission und die Bundesregierung waren sich hinsichtlich der entsprechenden Zielsetzungen einig[10]. Nun wäre zu erwarten gewesen, dass alle Kräfte mobilisiert und Hebel in Bewegung gesetzt würden, um diese strategischen Planungen in die Tat umzusetzen!

Leider ist das Gegenteil der Fall. Der Krieg in Europa mit seinen Folgen wurde von großen Teilen der Vertretung der bisherigen Wirtschaftsweise zum Anlass genommen –treffender noch wäre das Wort „missbraucht“ – um den umfassenden „Roll Back“ zu fordern. Der Hybris, Deutschland müsse die Welt ernähren, sollten sämtliche Übereinkünfte zur Extensivierung und Ökologisierung der Landwirtschaft geopfert werden.[11] Stattdessen wäre es aber umso wichtiger, den geplanten ökologischen Umbauprozess jetzt erst recht zu beschleunigen, da die negativen Auswirkungen des aktuellen Systems doch so deutlich hervortreten.

Lässt sich eine Krise so gegen die andere ausspielen? Landwirtschaft, Naturschutz und Ernährung sowie Klimaschutz und Frieden gehören zusammen!

Dieser Aufruf hat zum Ziel auf die aktuelle fatale Entwicklung aufmerksam zu machen und Verbraucher*innen sowie die Verantwortlichen in der Politik und den Handelsunternehmen zu entschiedenem und konsequentem Handeln aufzufordern.

*An wen richten wir uns?*

Die Allianz wendet sich mit diesem Aufruf an die Öffentlichkeit, um darauf aufmerksam zu machen, wie dramatisch sich die aktuelle Krise auswirken kann. Denn derzeit zeichnet sich ab, dass wir genau die Betriebe und Wertschöpfungsketten verlieren könnten, die das umsetzen, was angesichts des Krieges in der Ukraine als zukunftsfähig erkannt wurde: eine ökologische und nachhaltige Lebensmittelerzeugung, die unabhängig von Energie- und Futtermittelimporten sein kann. Der Aufruf wendet sich daher an die

-Verantwortlichen in der Politik: Überlassen Sie die Entwicklung eines nachhaltigen ökologischen Lebensmittel-Erzeugungssystems nicht den Turbulenzen des Marktes! *Sie gestalten die Rahmenbedingungen! Wir brauchen jetzt ein klares Bekenntnis dazu, dass die ‚fossile Landwirtschaft‘ ein Auslaufmodell ist. Dringend erforderlich ist jetzt ein rascher Umbau der Rahmenbedingungen zugunsten der Sicherung einer nachhaltigen Erzeugung und Verarbeitung von Lebensmitteln und damit des Ökolandbaus in unseren Anbauregionen. *Mit hohen Fördersummen wurde in vielen erzeugenden und verarbeitenden Öko-Unternehmen in den letzten Jahren investiert. Prüfen Sie, inwieweit jede Verordnung, die Ihr Haus verlässt, den obigen Zielen dient oder sie hemmt. Weisen Sie nach, wie sich die wahren Kosten der Erzeugung, einschließlich der negativen Umwelt- und Klimaeffekte, in einem echten Produktpreis abbilden lassen. Die Entwicklung hin zu mehr Nachhaltigkeit bei Erzeugung und Konsum muss so abgesichert werden, dass die etablierte oder wachsende ökologische Erzeugung nicht plötzlich wieder grundsätzlich in Frage gestellt wird! Nur Sie als politisch Verantwortliche können sicherstellen, dass trotz bedrohlicher Turbulenzen auf den Märkten der Aufbau regionaler ökologischer Wertschöpfungsketten endlich konsequent und im Einklang mit den langfristig ausgerichteten gesellschaftlichen Strategien umgesetzt wird!

-Verantwortlichen im Lebensmitteleinzelhandel und Discount: Bitte werden Sie Ihrer Verantwortung gerecht und unterstützen Sie insbesondere bäuerlich familiäre Höfe bewusst in dieser Situation. Gestalten Sie die Kommunikation ihren Kund*innen gegenüber im Sinne dieses Aufrufs. Legen Sie offen, wie hoch der Anteil biologisch erzeugter Ware aus der Region (also Hessen) tatsächlich ist, und gestalten Sie gemeinsam mit uns eine Steigerung dieses Anteils. Aus Sicht der Verbraucher*innen kann der Handel durch eine faire und transparente Preisgestaltung hier einen essentiellen Beitrag für Kaufentscheidungen leisten. Zudem kann der Handel einer zunehmenden Abhängigkeit von globalen Lieferketten und damit einem substantiellen Unternehmensrisiko entgegenwirken. Insofern: Überprüfen Sie Ihre Einkaufspolitik im Hinblick auf die Handelsspannen! Prüfen Sie, wo Sie auf Kosten der kurzfristigen Gewinnmaximierung langfristig strategisch in nachhaltig ausgerichtete Strukturen investieren sollten. *Es erfordert JETZT ein konsequentes Handeln um für den zukünftigen Einkauf Ihres Unternehmens noch ausreichend Betriebe in der Region bzw. in Deutschland zu haben. Landwirtschaftliche Unternehmen, die jetzt ihre Tore schließen müssen, werden Ihnen zukünftig nicht mehr als Lieferanten zur Verfügung stehen.*

-Verbraucher*innen: Bitte überdenken Sie ihr Einkaufsverhalten. Entscheiden Sie sich bewusst für Lebensmittel aus biologisch-regionaler Erzeugung! Mit jeder Kaufentscheidung tragen Sie zur Stabilisierung der wirtschaftlichen Situation unserer Biobetriebe bei.
Sie unterstützen damit eine Erzeugung, die nachgewiesen deutlich positivere Auswirkungen auf unsere Umwelt und damit auf unsere zukünftigen Lebensmöglichkeiten hat als die meisten konventionellen Produktionsverfahren. Prüfen Sie, was für Ihre Zukunft und erst recht die Ihrer Kinder die richtige Kaufentscheidung ist.

*Verantwortliche in Politik und Handel sowie Verbraucher*innen stehen JETZT in der Verantwortung, im Rahmen Ihres Einflussbereiches wirksam die ökologische Wirtschaftsweise zu unterstützen.* Maßnahmen, die wir aufgrund der Kosten aktuell lieber vermeiden, werden zukünftig deutlich höhere Kosten nach sich ziehen.



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[1] Persönliche Gespräche des Verbandes für Ökologischen Landbaus (VÖL, Hessen) und mit der Marketinggesellschaft Gutes aus Hessen (MGH) im Zeitraum 23. Mai bis 3. Juni 2022

[2] <#_ftnref2> Biowelt: Böses Erwachen ohne Ausnahme. Heft 05/22, S.20 (18. Jahrgang ZKZ 27411)

[3] <#_ftnref3> Vgl. Die ZEIT, 30.5.2022: „Ökologische Landwirtschaft – Alles bio, und zwar schnell?“
(https://www.google.de/url?sa=t&rct=j&q=&esrc=s&source=web&cd=&ved=2ahUKEwiDv5btypj4AhWg57sIHXpWCDcQFnoECBwQAQ&url=https%3A%2F%2Fwww.zeit.de%2Fzeit-magazin%2Fwochenmarkt%2F2022-05%2Foekologische-landwirtschaft-oekolandbau-bio-umweltschutz-bundesregierung&usg=AOvVaw2wpqimngBZOkI6kBkvYfki)

[4] <#_ftnref4> https://www.heizspiegel.de/heizkosten-pruefen/news/beitrag/111-prozent-mehr-auch-im-april-stiegen-die-heizkosten-deutlich-23511/

[5] <#_ftnref5> https://www.fao.org/worldfoodsituation/foodpricesindex/en/

[6] <#_ftnref6> https://www.handelsblatt.com/unternehmen/handel-konsumgueter/konsumzurueckhaltung-spargel-und-erdbeeren-zum-dumpingpreis-warum-viele-deutsche-bauern-ihre-felder-schreddern/28398614.html

[7] <#_ftnref7> https://www.boelw.de/news/rollback-impossible-landwirtschaft-und-ernaehrung-jetzt-krisenfest-machen/

[8] <#_ftnref8> Stellungnahme von Antonio Guterres, UN Generalsekretär, 18. Mai 2022 https://www.un.org/sg/en/content/sg/statement/2022-05-18/secretary-generals-remarks-the-global-food-security-call-action-ministerial-delivered

[9] <#_ftnref9> https://www.thuenen.de/media/publikationen/thuenen-report/Thuenen_Report_65.pdf

[10] <#_ftnref10> Zukunftskommission Landwirtschaft (BMEL, 2021), Ackerbaustrategie 2025 (BMEL, 2021), Grean Deal (COM/2019/640 final), Farm-to-Fork
(https://ec.europa.eu/food/horizontal-topics/farm-fork-strategy_en),

Koalitionsvertrag der Bundesregierung (https://www.bundesregierung.de/breg-de/service/newsletter-und-abos/newsletter-verbraucherschutz/koalitionsvertrag-2021-1990800)