Kapitel 1.5. Ländliche Räume, Landwirtschaft, Ernährung, Umwelt im Koalitionsvertrag von CDU/CSU und SPD
Ein Kommentar aus Sicht des Ernährungsrats Marburg und Umgebung e.V. (EMU)
„Die Menschen in Deutschland, in Stadt und Land, erwarten zurecht gleichwertige Lebensverhältnisse, eine funktionierende Daseinsvorsorge, gesunde Lebensmittel und eine intakte Natur und Umwelt. Wir treten für Nachhaltigkeit, auch beim Konsum, und eine zukunftsfähige Landwirtschaft ein, die wir aufbauend auf vergangenen und laufenden Dialogprozessen im Geiste eines gesamtgesellschaftlichen Konsenses ausgestalten wollen“, heißt es in der Einleitung des Kapitels ländliche Räume.
Aber wie gelingt es, für die Bevölkerung gesunde Lebensmittel bereitzustellen? Welche Voraussetzungen müssen dafür geschaffen werden?
Richtig ist sicherlich, dass „Landwirtinnen und Landwirte sowie ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter einen wichtigen Beitrag zur Versorgungssicherheit“ leisten, aber sind wirklich alle Betriebe „unsere natürlichen Partner bei Themen wie Umwelt-, Klima-, Natur- sowie Tier- und Artenschutz“? Dass Land- und Forstwirtschaft Respekt und Anerkennung sowie verlässliche Rahmenbedingungen verdienen, ist sicher richtig, aber unabhängig von der Größe der Betriebe und der Bewirtschaftungsform gilt dies natürlich nicht. Intensive Landwirtschaft und Massentierhaltung sind sicher keine klima- und umweltverträgliche Bewirtschaftungsform, vom Tierschutz ganz zu schweigen.
Wenn dies den kleinbäuerlich strukturierten und regional verankerten Betrieben zugeschrieben wird, kann der Ernährungsrat Marburg und Umgebung (EMU) das voll unterstützen. Auf Märkten wie dem von uns organisierten mit dem Namen „Mittelhessen geschmackvoll“ wird konsequent gezeigt, welche Potenziale in der Region liegen und wo für die Politik Handlungsspielräume sind.
Ländliche Regionen
Unzutreffend ist allerdings, dass die Mehrheit der Menschen in Deutschland in ländlichen Regionen lebt, ganz im Gegenteil: Die Mehrheit der Bevölkerung lebt in Großstadtregionen.[1] Der Anteil der Stadtbewohner betrug 2023 78 %.[2]
Zu begrüßen ist aber, wenn die Koalition als Ziel ausgibt, weitere Potenziale für regionale Wertschöpfung und eine Stärkung der Gemeinschaft zu erschließen und dazu gezielt EU-, Bundes- und Landesmittel einzusetzen. Und der Hinweis gegeben wird, dass schon heute in ländlichen Räumen ein Großteil der Erneuerbaren Energien erzeugt wird.
Umwelt und Ernährung
Ob die konfligierenden Ziele der Wettbewerbsfähigkeit, der Ernährungssicherung und der Ressourcenschonung gleichermaßen verfolgt werden sollten, ist allerdings mehr als fragwürdig. Die einseitige Orientierung an der Weizenproduktion sollte abgestellt werden, und die Umstellung auf andere Getreidesorten erfolgen. Dies gilt vor allem vor dem Hintergrund der ggf. wegfallenden oder nicht mehr verfügbaren Produktion in der Ukraine.
Auch auf Freiwilligkeit, Anreize und Eigenverantwortung bei der Umsetzung von Umwelt- und Klimaschutzstandards zu setzen, ist kein realistischer Ansatz. Und wie dabei der selbstbestimmte Verbraucher umfassend und vorsorgend geschützt werden soll, dies lässt die Koalitionsvereinbarung offen. Allgemeinplätze wie „bei all dem sind die gegenseitige Verbundenheit von Menschen, Tieren und Umwelt sowie unsere globale Verantwortung und Verpflichtungen Grundlage unserer Politik“ helfen dabei nicht wirklich weiter.
Klimaanpassung
Im Abschnitt Klimaanpassung fehlt der Bezug zur Landwirtschaft völlig. Wie kann künftig bei zurückgehendem Grundwasserspiegel noch die Ernährungssicherung in Deutschland gewährleistet werden? Antworten hierzu gibt es nicht im aktuellen Koalitionsvertrag.
Die Kommunen sollen bei der Anpassung an den Klimawandel unterstützt werden, aber wie soll das geschehen? Dazu wird ein Sonderrahmenplan Naturschutz und Klimaanpassung eingeführt, aber die Einführung einer diesbezüglichen Gemeinschaftsaufgabe nur geprüft statt vorgesehen.
Verbraucherinnen und Verbraucher
Der vorsorgende Verbraucherschutz soll gestärkt werden in Absprache mit den Ländern (nicht interessengeleitete Verbraucherbildung, Ernährung, Finanzen, Digitales). Die Förderung des Netzwerks und der Auszeichnung Verbraucherschule wird fortgesetzt. Neue Akzente werden gesetzt im nachhaltigen Konsum und der Festlegung des Grundsatzes „Reparieren statt Wegwerfen“. Lebensmittelverschwendung soll auf allen Ebenen bekämpft, gemeinnützige Organisationen wie die Tafeln gefördert werden. All diese Maßnahmen begrüßt der EMU. Das momentan anwachsende Foodharing in den Städten findet aber keine Erwähnung. Verstärkt Bewegung und gesunde Ernährung zu fördern, insbesondere von Kindern und Jugendlichen, ist sicher richtig, aber wie soll das praktisch umgesetzt werden?
Nutztierhaltung und Tierschutz
Hier wird die Arbeit der Ampelregierung konsequent fortgesetzt mit einfacheren Genehmigungsverfahren für Tierställe und dem Bestandsschutz für neu- und umgebaute Tierwohlställe für mindestens 20 Jahre. Neu ist der Ansatz, einen unkomplizierten Tierartenwechsel im Baugesetzbuch zu ermöglichen. Ein einmaliges Prüf- und Zulassungsverfahren für neue Stallsysteme einzuführen, um langfristigen Investitionsschutz sowie Rechts- und Planungssicherheit für die Landwirtschaft herzustellen, ist eine positive Neuerung. Die notwendigen Mittel für den
tierwohlgerechten Stallbau auf Grundlage staatlicher Verträge dauerhaft bereitzustellen ist ebenfalls zu begrüßen. Das Tierhaltungskennzeichnungsgesetz grundsätzlich zu reformieren, um es praxistauglich zu gestalten und auf das Tierwohl auszurichten, ist ebenfalls positiv einzuschätzen. Dies trifft auch auf die Harmonisierung des Tiergesundheitsrechts zu, das praxistauglich gestaltet werden soll. Die Höchstsätze zur Entschädigung im Tierseuchenfall sollen in angemessener Weise angepasst werden. Die Videoüberwachung auf Schlachthöfen wird geprüft. Es soll eine praxistaugliche Rechtsgrundlage für Kontrolle und Kennzeichnung von toten Tieren in Verarbeitungsbetrieben tierischer Nebenprodukte geschaffen werden. Die Erleichterung der Schlachtung von Nutztieren ist allerdings nicht berücksichtigt worden. In ganz Hessen gibt es nur noch 395 Betriebe und oftmals müssen mehr als 100km zum nächsten Schlachtbetrieb zurückgelegt werden. Auch die Biozertifizierung müsste erleichtert werden, um diesen Trend umzukehren und bessere Anreize für mehr Tierwohl zu schaffen
Pflanzenschutz
Hier wird der Blick offensichtlich nur auf die konventionelle Landwirtschaft gelenkt, da dem effizienten Einsatz von Pflanzenschutzmitteln eine bedeutende Rolle in der landwirtschaftlichen Erzeugung zugeschrieben wird. Warum die Zulassungssituation von Pflanzenschutzmitteln verbessert werden soll, ist nicht nachvollziehbar. „Weniger ist mehr“ ist seit Jahren das Credo nicht nur der Umweltverbände, sondern auch der ökologischen Anbauverbände. Den Umfang und das Risiko beim Pflanzenschutzmitteleinsatz zu reduzieren, unter anderem durch Anreize für die Präzisionslandwirtschaft und integrierten Pflanzenschutz, ist da der deutlich bessere Weg, wenn auch offen bleibt, wie dies gelingen soll.
Moderne Landwirtschaft
Chancen aus Digitalisierung, Künstlicher Intelligenz und Bioökonomie sollen erschlossen werden. Der praxistaugliche Einsatz von Drohnen in der Landwirtschaft soll ermöglicht werden. Wo dies für den ökologischen Landbau Verbesserungen bringt, wird nicht erläutert.
Gemeinschaftsaufgabe Agrarstruktur und Küstenschutz (GAK)
Bundesförderprogramme sollen im Einklang mit den Förderangeboten der GAK entwickelt werden. Eine Förderung der Mehrgefahrenversicherung aus Mitteln der GAK wird lediglich geprüft. Vielfältig strukturierte Agrar-Kultur-Landschaften durch Blühflächen, Hecken, Feldgehölze und Grünstreifen und deren Vernetzung werden gefördert. Anreize für naturverträgliche Agroforstsysteme sollen gegeben werden. Ein Kulturlandschaftsprogramm zum Erhalt besonders sensibler Kulturlandschaften wird lediglich geprüft, aber die Weidetierhaltung gefördert. Was hier konkret geplant ist, bleibt aber auch hier offen.
Gemeinsame Agrarpolitik (GAP)
Für die hohen Anforderungen an die GAP soll ein entsprechendes GAP-Budget im nächsten EU-Finanzrahmen vorgesehen werden. Die Koalition will darüber hinaus sicherstellen, dass sie in der ersten Säule einkommenswirksam, bürokratieärmer, transparenter und effizienter ausgestaltet wird. Einkommensanreize für die Erbringung von Klima-, Umwelt und Tierwohlleistungen sollen deutlich gesteigert werden, ohne dass dies quantifiziert wird. Jung- und Neulandwirtinnen und -Landwirte sollen stärker gefördert werden, aber auch hier fehlt eine Konkretisierung der Förderung.
Gleichwertigkeit von konventioneller und ökologischer Landwirtschaft
Die Koalition bekennt sich zum Ausbau des Ökolandbaus als wichtiges Element einer nachhaltigen und klimaschonenden Landwirtschaft und sieht ihn als einen wichtigen Innovationsmotor. Konventionelle und ökologische Landwirtschaft werden als gleichwertige Bewirtschaftungsformen angesehen. Der Ernährungsrat Marburg und Umgebung begrüßt auch den folgenden Absatz inhaltlich:
„Mit einer Biostrategie werden wir den Ausbau des Ökolandbaus
deutlich stärken, indem wir die Mittel für die Forschung und Bildung für den Ökolandbau erhöhen, das Bundesprogramm Ökologischer Landbau (BÖL) und Nachfrageimpulse stärken, zum Beispiel durch Standards bei Gemeinschaftsverpflegungen. Gleichzeitig reduzieren wir Hindernisse bei Erhalt und Ausbau des Ökolandbaus.“
Es fehlt aber ein klares Ausbauziel für den Ökolandbau, wie es bislang in Hessen galt (25 % Anteil der ökologisch bewirtschafteten Fläche bis 2025).[3]
Neue Akzente werden mit dem auf EU-Ebene vereinbarten Monitoring im Düngegesetz verankert. Die Stoffstrombilanzverordnung wird aber abgeschafft. Um zukünftig die besonders wasserschonend wirtschaftenden Betriebe in roten Gebieten von Auflagen zu befreien, wird ein neues Instrument geschaffen. Eine umfassende und ambitionierte EU-Eiweißstrategie wird angekündigt; damit soll der heimische Anbau von Eiweißpflanzen gestärkt werden, um den Import zu verringern. Die Entwicklung und Markteinführung nachhaltiger alternativer Proteine wird gefördert, auch dies ist zu begrüßen.
Faire Wettbewerbsbedingungen
Die Evaluierung und die Überarbeitung der Umsetzung der EU-Richtlinie über unfaire Handelspraktiken, um einen Wettbewerb mit fairen Erzeugerpreisen im Lebensmittelmarkt zu ermöglichen, soll vorgenommen werden. Was allerdings das Bekenntnis zu den hohen Standards unserer Landwirtschaft und die Ankündigung des Einsatzes für gleichwertige Spiegelklauseln bei Lebensmittelimporten im Rahmen neuer WTO-Verhandlungen bedeutet, ist unklar.
Mit dem nachfolgenden Zitat zeigt die Koalition, dass die internationale Agrarpolitik mit dem Setzen auf Agrarexporte im Weltmarkt weiterverfolgt werden soll, und gerade nicht die Regionalisierung und Rückbesinnung auf die Region als Produktionsort das Hauptziel ist. Zitat:
„Mit einer modernen Agrarexportstrategie werden wir insbesondere kleine und mittlere Unternehmen unterstützen, kaufkräftige Märkte zu erschließen und Agrarexporte nachhaltig zu steigern. Wir werden eine steuerliche Risikoausgleichsrücklage sowie weitere finanzielle Anreize zur Wettbewerbsfähigkeit schaffen und ausbauen.“
Agrardiesel-Rückvergütung und alternative Kraftstoffe
Die Agrardiesel-Rückvergütung vollständig wieder einzuführen zeigt den rückwärtsgewandten Ansatz in der Klimapolitik. Den Einsatz alternativer Kraftstoffe in der Land- und Forstwirtschaft von der Energiesteuer zu befreien, ist dagegen ein sinnvoller Ansatz.
[1] https://www.destatis.de/DE/Themen/Querschnitt/Demografischer-Wandel/Aspekte/demografie-grossstadtregionen-ohne-inhaltsverzeichnis.html
[2] https://de.statista.com/statistik/daten/studie/662560/umfrage/urbanisierung-in-deutschland/
[3] https://landwirtschaft.hessen.de/sites/landwirtschaft.hessen.de/files/2021-06/oekoaktionsplan_hessen_2020-2025.pdf
Den Koaltionsvertrag kann man auf dieser Seite herunterladen.